„Wie eine Braut“

Eingetragen bei: Wettbewerb: Alles Liebe oder was? | 0

Sophie-Marie, 15 Jahre, Boizenburg/Elbe, Deutschland

* * * * *

Ungläubig starre ich in den vor mir stehenden Spiegel, der mir mit seiner Größe einen Blick auf mein gesamtes Äußeres gewährt.Um sicherstellen zu können, dass es sich hierbei um die Realität handelt, fahre ich mit den Finger meiner rechten Hand über die goldenen Ornamente, die den Rand des Spiegels säumen.

Als mein Blick jedoch auf den kahlen Ringfinger der tastenden Hand fällt, durchfährt ein warmes Kribbeln meinen Körper: Aufregung.

Nun rast mir eine Vielzahl von Fragen durch den Kopf, die mich verrückt zu machen scheint. Aufeinmal fürchte ich mich davor, einen riesigen Fehler zu machen und meine freie Hand beginnt, leicht zu zittern. Blitzschnell reißt sich die rechte Hand vom Rahmen des Spiegels los und umgreift nervös die Finger der anderen.

Wieder fixiere ich mein Spiegelbild, ohne dabei eine Rührung in meinem Gesicht zu zeigen. Einzig meinen Fingern kann man meine innere Unruhe anmerken, da ich unbewusst auf jeden von ihnen nacheinander einen leichten Druck ausübe. Als der Mittelfinger der linken Hand diesem nachgibt und ein leises Knacken von sich gibt, läuft mir ein leichter Schauer an Entspannung den Rücken
hinunter.
„Mensch, du weißt doch, wie sehr ich diese blöde Angewohnheit von dir hasse!“, dringt es mit ironischem Unterton von meiner linken Seite.

Mein Herz setzt vor Schreck einen Schlag aus, bevor es wieder zu seinem Rhythmus findet. Sofort drehe ich mich der mir bekannten Stimme zu, wobei das Gemisch aus Aufregung und Angst von Staunen abgelöst wird.

„Anna, du siehst klasse aus!“, entfährt es mir schlagartig.

Wie gebannt mustere ich meine große Schwester von oben bis unten, von der aufwendigen Hochsteckfrisur bis hin zu den cremefarbenen Schuhen, während sie auf mich zu geht. Als sie direkt vor mir steht, dreht sie sich mit mir wieder einmal zu dem Spiegel, in den ich bereit eine Ewigkeit geblickt habe. Doch jetzt hat sich das Bild verändert, obwohl tatsächlich nur ein Merkmal anders ist: Ich lächele.

„Danke, so mag ich dich übrigens viel lieber! Aber mal ehrlich, schau dich doch mal an! Du siehst unfassbar toll aus!“ Ein liebevolles Lächeln schmückt ihr Gesicht. „Heute erfüllt sich endlich dein Wunsch. Du darfst dich wie eine Braut fühlen.“

Nachdem diese Worte ihren Mund verlassen haben, umgreift sie meine linke Hand und drückt diese sanft. Eine Geste der Unterstützung. In diesem Moment bin ich mit meinen Emotionen derartig überfordert, dass ich nur vor mich hinstarre und automatisch ihren Händedruck erwidere.

„Wir müssen los, oder?“, hake ich unsicher nach. Ihr stummes Nicken beantwortet meine Frage.

Mit einem Zwinkern verabschiede ich mich endgültig von meinem Spiegelbild, was meinem Selbstbewusstsein wieder eine gewisse Steigerung gibt. Ohne meine Hand loszulassen, zieht meine Schwester mich in die Richtung der Tür, durch die sie selbst hineingekommen war. Hand in Hand betreten wir schließlich den Flur. Dort hallt das Klacken unserer Schuhe auf dem dunklen Holzboden durch den langen Gang, an dessen Ende sich eine breite Tür befindet.

Viel zu schnell haben wir diese erreicht, wobei mir keine Zeit für weitere Zweifel mehr bleibt. Meine Begleitung hakt sich unter meinem linken Arm ein. So hatte ich es mir gewünscht, auch wenn diese Geste als unüblich gilt. Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet habe, drückt sie mit ihrer freien Hand die Klinke runter und zieht sie in unsere Richtung. Ein Schwall aus Licht und Musik ergießt sich über uns, bevor ich einen ersten Blick in den Raum erhaschen kann.

Obwohl zu beiden Seiten von mir Menschen stehen, die mich neugierig beäugen, kann ich meinen Blick nicht von ihm abwenden. Schon aus der Entfernung erkenne ich die blutrote Rose an seinem Kragen und sein strahlendes Lächeln. Als meine Schwester mit mir die ersten Schritte im Einklang mit der Musik macht, überkommt mich endlich die Freude über die Schönheit der Realität: Gleich werde ich heiraten.

Noch 4 Schritte. Meine Füße bekommen regelrecht Flügel und möchten nur noch zu meinem Liebsten. Einen kurzen Augenblick beschwere ich mich in Gedanken scherzhaft darüber, diese langsame Musik gewählt zu haben.

Noch 3 Schritte. Vor meinem inneren Auge ziehen all die schmerzhaften Hürden für unsere Beziehung vorbei. Ich verlor viele Freunde und zum Teil sogar den Beistand meiner eigenen
Familie, weil ich mit meiner Liebe zu ihm, ein gesellschaftliches Tabu brach.

Noch 2 Schritte. Ich rufe mir einen der schönsten Momente in Erinnerung. Den Tag unserer Verlobung. Er sprang mit mir aus einem Flugzeug, obwohl er furchtbare Angst hatte, weil Fallschirmspringen meine große Leidenschaft ist. Mitten im freien Fall fragte er mich dann, ob ich ihn heiraten möchte, jedoch verstand ich seine Frage erst akustisch nicht.

Noch ein Schritt. Mein Herz schlägt so stark in meinem Brustkorb, dass ich befürchte, es würde jeden Moment herausspringen. Eine Welle von Emotionen trifft mich mit voller Kraft und zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen, während wir uns nur wortlos in die Augen schauen.

Mit glasigen Augen übergibt mich meine Schwester an meinen Zukünftigen, bevor die Standesbeamtin direkt mit den Formalitäten beginnt. Es folgen das Jawort und der Ringtausch. Danach begutachte ich den Ringfinger meiner rechten Hand, der nun von einem Symbol der Zusammengehörigkeit geschmückt wird.

Die Standesbeamtin setzt zu den magischen Worten an, auf die wir sehnsüchtig gewartet haben. All die vorangegangen Dinge haben im Vergleich dazu keine wirkliche Bedeutung. Noch bevor die Worte ihre Lippen verlassen können, nehmen wir uns wieder an den Händen und schauen uns tief in die Augen.

„Michael, ich liebe dich“, flüstere ich, bevor sich unsere Lippen berühren.

Auch er hält einen Moment inne und antwortet mir eigentlich überflüssiger Weise, denn ich habe das Gefühl, seine Gedanken lesen zu können.

„Ich dich auch, Erik.“

Als unsere Lippen endlich die ersehnten Zärtlichkeiten austauschen, brechen alle Anwesenden gemeinsam in Applaus aus. Der Kampf hat sich gelohnt.