„Was uns verbindet, müssen andere nicht verstehen“

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Hannah, 13 Jahre, aus Thalheim bei Wels, Österreich

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Abrupt öffnete ich meine Augen. Ich hörte sie schreien. Schon wieder. Das letzte Mal war noch nicht lange her. Er war wieder mal besoffen nach Hause gekommen. Ich hatte seine lauten Schritte gehört, wie er die Treppe hochgepoltert war. Herumgeschrien hatte er und meine Geschwister und mich beschimpft. So wie fast jeden Abend. Meine Mutter schickte Paula, Ben und mich zeitig am Abend ins Bett. Doch jetzt konnte ich ihr Geschrei hören. Das Schlafzimmer befand sich zwar am anderen Ende des Ganges, aber unsere Wände waren wohl nicht sehr schalldicht. Ihr Schluchzen klang so traurig, als ob sie schon alles verloren hätte. Als ob nichts mehr von Bedeutung wäre, nicht einmal wir-ihre Kinder. Und schon wieder ein Schlag. Er schallte durch das kleine Zimmer. Sie heulte auf. Dieser Idiot! Ich hasste ihn! Ein Blick auf meinen Wecker zeigte mir, dass es gegen Mitternacht war. Ich beugte mich über mein Stockbett. Schaute ob meine Geschwister noch schliefen. Natürlich nicht. Sie wurden, genau wie ich, jedes Mal wach. Leise stieg ich die Leiter hinab. Wenn es wieder einmal so weit war, kuschelten wir uns immer alle gemeinsam in das Bett meiner kleinen Schwester. Sie war erst fünf. Mein Bruder elf. Wir hatten gelernt lautlos zu weinen. Sie sollten nicht mitbekommen, dass wir munter waren. Paula drückte sich fest an mich. Bald war mein T-Shirt nass von ihren Tränen. Ich versuchte immer meine Geschwister zu beruhigen. Das war schließlich meine Aufgabe als große Schwester. Doch immer wenn er sie schlug, brach etwas in mir zusammen. Wie ein Schutzschild, das plötzlich in tausend Teile zerspringt. Ich fühlte mich nackt. Und so rollten auch mir dicke Tränen die Wangen hinunter. Ich hatte nicht die Kraft, sie aufzuhalten und so flossen sie immer weiter und weiter. Die beruhigenden Worte, die ich aussprach, waren nicht nur für meine Geschwister gedacht, auch ich brauchte sie. Mit Sätzen wie „Sch, alles wird gut“ oder „Nicht weinen, ihr Süßen“ versuchte ich alle zu beruhigen. Aber insgeheim wussten sie, dass es nur hohle Phrasen waren. Meine Schwester zitterte schon und ich kuschelte mich enger an sie. Ich war froh, meine Geschwister an meiner Seite zu haben. Gemeinsam war es leichter durchzustehen. Wir hatten eine Verbindung, die Außenstehende niemals verstehen würden. Unser Liebe zueinander war riesig. Wir würden immer zueinander halten, das wusste ich. Doch ein weiterer Schrei unserer Mutter ließ mich zusammenzucken und die schönen Gedanken waren sofort wieder verschwunden. Die Wirklichkeit hatte mich eingeholt. Ich tauchte gern ab. Einfach mal den ganzen Mist hier vergessen. In meinen Träumen konnte ich mir einfach alles vorstellen, zum Beispiel eine schönere Welt mit Gerechtigkeit und ohne Krieg. Ja, ich stellte mir gerne Welten vor, in denen jeden Tag die Sonne scheint und jeder Mensch mit einem Lächeln im Gesicht die Straßen entlang geht. Vielleicht, wenn ich ganz ganz fest daran glaube, geht es irgendwann in Erfüllung. Wer weiß? Hauptsache ein kleiner Hoffnungsschimmer, an den ich mich in schwierigen Stunden klammern kann, war noch vorhanden. Leise stützte ich mich auf meine Ellenbogen und schaute, ob meine Geschwister schon wieder eingeschlafen waren. Ja. Ich horchte, ob aus dem Schlafzimmer noch etwas zu hören war, konnte aber Gott sei Dank nichts mehr vernehmen. Beruhigt schloss ich die Augen und lauschte unserem Atem. Bald hatte ich mich wieder in meinen Träumen verloren. Eine weitere schreckliche Nacht war überstanden. „Wie hält meine Mutter das nur aus?“ war mein letzter Gedanke und dann war ich endlich eingeschlafen.