„Erloschen“

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Lea, 14 Jahre, Innsbruck, Österreich

* * * * *

 

Silvester. Eine Feier des Neuanfangs. Zu oft schon war die Silvesternacht über diese Stadt hereingebrochen. Doch nur selten hatte er sie alleine verbracht. Egal ob mit Familie oder später Freunden und Freundin. Nie hätte er gedacht sie jemals alleine zu verbringen. Also so ganz allein. Ohne eine einzige Person. Er hätte es nicht im Traum erwartet, das hatte keiner. Ob es jetzt noch jemanden kümmerte?

Wahrscheinlich nicht. Zumindest ging er nicht davon aus. War er nicht sowieso allen egal?

Langsam schlenderte er durch die Straßen, seine Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben. Er kickte einen Stein vor sich her.

Das verursachte Klackern ging ungehört in den Geräuschen des Verkehrs unter. Große Hektik herrschte hier, Stress lag in der Luft, es roch nach Abgasen. Alles eilte an ihm vorüber, doch er blieb zurück, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Wozu auch? Hatte doch keinen Sinn, durch das Leben zu sprinten, wenn man doch gemütlich spazieren konnte.

Ein Seufzen entfloh seinen Lippen. Er blieb stehen und sah in den grauen Himmel hinauf. Grau wie ihre Augen. Grau wie  Asche. Grau wie Stein. Viele ihrer gemeinsamen Erinnerungen zogen bei diesem Anblick vor seinem inneren Auge vorüber. Er ließ den Kopf wieder hängen und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. „So wie sie es früher immer gemacht hat,“ schoss es ihm durch den Kopf. Bei diesem Gedanken musste er schmunzeln. Es war jedoch kein glückliches Schmunzeln. Kein belustigtes und auch kein schmerzendes. Es war ein spöttisches Schmunzeln. Er verhöhnte sich selbst dafür, ihr immer noch nach zu trauern, sie immer noch zu vermissen, sie immer noch zu brauchen. Er verhöhnte und verabscheute sich selbst und diese Trauer, die ihn Tag täglich von innen aufzufressen drohte. Schwerfällig und lustlos setzte er seinen Marsch fort. Wohin wusste er nicht, der Weg war sein Ziel. Oder war es doch etwas anderes? Wenn er ehrlich zu sich selbst wäre, hätte er eingesehen, dass er es nicht wusste. Wenn er ehrlich zu sich selbst wäre, hätte er aber auch schon vor einer ganzen Weile erkannt, dass er weiterleben musste, wieder mit dem Strom

schwimmen- und sich mit der Welt weiterdrehen musste.

Es begann zu dämmern und wurde ruhiger auf den Straßen. Schneeflocken fielen wie in Zeitlupe auf die Erde nieder. Rauch stieg aus den Schornsteinen und Lichterketten strahlten mit den ersten Sternen um die Wette. Durch die Fenster konnte man glückliche Kinder erspähen und alles schien in Einklang zu sein. Verloren starrte er auf das Wasser, in welchem sich verzerrt die Sterne spiegelten und milchig weiß schimmerten. Er ließ seine Beine über den Rand der Brücke baumeln.

Unter ihm toste der Fluss. Die Kälte kroch ihm in die Knochen, doch er nahm es nur so halb wahr. Sein Körper war taub. Er hörte nichts, nahm nichts von seiner Umwelt war. Hing nur seinen eigenen Gedanken nach und ließ die Beine baumeln. Dachte über das letzte Jahr, über sein Leben nach. Sein Leben, das er schon früher hätte weiterleben sollen.

Ob er das wollte? Wenn er ehrlich zu sich selbst wäre, hätte er schon viel früher erkannt, dass er es ohne sie nicht wollte, nicht konnte.

Wofür denn leben wenn nicht für die Liebe? Die Wölkchen seines Atems stiegen auf. Er legte seinen Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den klaren Sternenhimmel. Früher hatte er nur in ihre Augen sehen müssen, um diesen Anblick genießen zu können. Ihre Augen hatten die Sterne in sich getragen. Doch nun war sein persönlicher Sternenhimmel erloschen. Und das, obwohl er ohne diesen Himmel auf Erden doch eigentlich nicht leben konnte. Die kalte Nachtluft ordnete seine Gedanken. Langsam löste sich der Knoten in seinem Kopf immer und immer weiter auf. Langsam verstand er. Noch wenige Sekunden bis Mitternacht.

Unruhig rutschte er im Dunkeln hin und her. Er hatte verstanden. Er hatte verstanden, dass er es nicht konnte, dass er ohne sie nicht konnte. Er wollte wieder zu ihr.

10! Er stand auf, beide Hände auf dem Geländer.

9! Mühelos schwang er sich über das Geländer und kam dahinter zu stehen.

8! Ein weiterer Schritt und er standen direkt vor dem Abgrund.

7! Das Rauschen des Flusses benebelte seine Sinne. Er nahm nichts anderes mehr wahr. Es gab nur noch ihn und den Fluss.

6! Er sah ihr Gesicht vor sich, ihr Lächeln. Ihr Lächeln, das er seiner Meinung nach viel zu selten gesehen hatte.

5! Sein Griff um das kalte Metall des Geländers wurde lockerer.

4! Nun ließ er die Absperrung komplett los und starrte in die Fluten.

3! Er war bereit. Er wollte endlich frei sein, frei von seinem Leid und diesen Qualen. Er wollte endlich seine Ruhe finden.

2! Ein letzter tiefer Atemzug. Die kalte Nachtluft brannte in seinen Lungen und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er warf einen Blick in die Fluten des Flusses, die sich gegen die Brücke aufbäumten und wieder in ihrer Gischt zusammen sackten.

1…

Das neue Jahr war hereingebrochen. Feuerwerke erhellten den Himmel und Funken fielen wie Regen auf die jubelnde Stadt hinab. Überall hörte man Gelächter, sah Lichter und Feuerwerke, die funkelten. Nur ein Lachen würde man nie wieder auf dieser Welt hören. Einer würde dieses Licht nie wieder erblicken. Wie ein einsamer Stern, erloschen am Himmel, verloren im Universum, verbannt von der Welt.