„Einmal Wüste und zurück“

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Magdalena, 12 Jahre, Bischofshofen, Österreich

* * * * *

Wie jeden Tag geht Elena vor der Schule zum Zeitungsstand. Ihr Vater ist wie üblich zu nichts zu gebrauchen. Er hat auch diese Nacht getrunken, geraucht und Geld verschwendet.  Um die zwei Zimmerwohnung bezahlen zu können muss Elena jeden Tag vor der Schule austragen. Auch wenn ihr Papa einmal zur Arbeit geht, reicht der Lohn nicht für Vater und Tochter.

Fünf Uhr morgens, die richtige Zeit um anzufangen. Zur selben Zeit wie ich berührt eine Hand den Zeitungsstapel. Sofort durchströmt mich ein Gefühl, dass ich nie in meinem ganzen Leben vergessen werde. Es ist, als wenn dich vom rechten Ellbogen weg durch den ganzen Körper ein Kribbeln, das Liebe, Freude, Hass, Trauer und alle Gefühle die man sich vorstellen kann beinhaltet, durchströmt. Als dieses Gefühl aufhört, befinde ich mich in einer Wüste. Sahara oder so, aber in Geographie bin ich eine absolute Null. Jetzt habe ich Zeit mein Gegenüber zu betrachten. Es ist ein Junge, ungefähr so alt wie ich. Ein paarmal habe ich ihn auch schon in der Schule gesehen, doch da er reiche Eltern, beziehungsweise eine reiche Mutter hat, hatten wir noch nie die Gelegenheit miteinander sprechen. In unserer Schule ist es nämlich so, dass die Armen mit den Armen reden, die Reichen mit den Reichen. Doch dieser Junge war mir immer schon sympathisch. Sympathisch, nicht mehr. Auch er mustert mich nun. Als unsere Blicke sich kreuzen, blicken wir beide beschämt weg. Schlagartig bemerke ich zwei Dinge. Erstens, dass die Hitze unerträglich ist und zweitens, dass weit und breit nichts als Sand zu sehen ist. Außerdem spüre ich so etwas wie Furcht, denn wie zum Musikgott sind wir hier her gekommen?! Da beginnt der Junge zu reden. „Hey, ich bin Lukas. Du heißt doch Elisa oder so?“ „Elena“, murmle ich. [..] Wir beschließen uns in Richtung Sonne fortzubewegen. Nach einiger Zeit stößt Lukas einen Schrei aus. „Schau doch einmal, da drüben! Siehst du das? Sieht aus wie ein Stand!“ Verwundert betrachten wir den 500 Meter entfernten Marktstand, welcher wie wir direkt aus der Stadt hier hergebracht aussieht. Dort erblicken wir Wasser, Essen und kühle Kleidung im Überfluss. Jetzt spüren wir erst recht, wie drückend heiß die Sonne auf uns herab scheint. Völlig von Sinnen rennen wir los.  Kurz darauf bleibe ich stehen. Zornig schreie ich: „Dieser verdammte Stand kommt nicht näher. Und wir zwei rennen wie die Verrückten!“ Völlig kaputt breche ich in Tränen aus und werfe mich in den Sand. Lukas eilt zu mir. Dann beginnt er auf mich einzureden. „Wir müssten jetzt aufstehen und weiter gehen, sonst kommen wir noch um“, sagt er.  Mit letzter Kraft stolpern wir weiter. Doch nach einer Weile bricht die Dunkelheit ein. Zusammen beschließen wir nun unser Nachtlager aufzuschlagen. Bevor ich einschlafe denke ich kurz nach: „Ich liege neben einem Jungen, der mir bis vor wenigen Stunden noch völlig fremd war. Und zwischen uns ist etwas Seltsames. Nicht Freundschaft, nicht Liebe, mehr so etwas, als ob ich meinen nichtvorhandenen Bruder wieder sehe.“

Obwohl ich über kein besonders gut ausgereiftes Zeitgefühl verfüge, weiß ich, dass es Mitternacht ist, als ich aufwache. Eine eigenartige Erscheinung, etwa zwei Meter über dem Boden, hat mich geweckt. Das seltsame Etwas schwebt in der Luft, von selbst leuchten. Als ich Lukas wecke, starren wir das Ding lange an. Nach einer Weile erkennen wir, dass es sich auf magische Weise verändert. Vom Ring, zum Baum, zur Rose und dann zu einem Stand. Doch auf diesem liegen nicht mehr wie zuvor Lebensmittel und Kleidung, sondern Zeitungen. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie werde ich gewusst haben, dass ich etwas tun muss. Denn als ich aufstehe und die oberste Zeitung in die Hand nehme, erinnere ich mich daran, wie wir hier her kamen. Wir berührten gleichzeitig eine Zeitung. Von der Hitze beeinträchtigt, beginne ich wirres Zeug zu erzählen. Davon wie schwer es mit meinem Vater ist, dass ich meine Mutter nie kennengelernt habe, dass ich für mein Leben gern musiziere, dass ich drei Muttermale am rechten Ellenbogen in Form eines Dreiecks habe, dass, laut meinem Vater, bei meiner Geburt mein Zwillingsbruder gestorben sei und vieles mehr. Als ich aufhöre flüstert Lukas so leise, dass ich es fast nicht verstehe: „Auch ich habe drei Muttermale auf meinem Ellenbogen, habe nur meine Mutter,  bei meiner Geburt soll meine Zwillingsschwester gestorben sein.“ Verwirrt blicken wir uns an. „Wann hast du Geburtstag?“ „17. Oktober 2003“ „Ich auch…“  Unsere Augen wandern zuerst zu uns, dann zur Zeitung. Im rechten Eck  steht das Datum. An sich nichts Besonderes, doch dort steht 17. Oktober 2003. Unser beider Geburtstag. Noch etwas fällt uns auf. Die Schlagzeile der ersten Seite lautet „Immer mehr Zwillinge werden getrennt“. Wir berühren im selben Augenblick das Titelblatt. Augenblicklich spüre ich wieder dieses Kribbeln durch den ganzen Körper. Dank der Morgensonne registriere ich, dass wir uns nicht mehr in der dunklen Wüste befinden, sondern vor dem Zeitungsstand der Stadt stehen. Eine Hand noch auf der Zeitung liegend, werfe ich einen Blick zur Kirchturmuhr. Es ist fünf Uhr morgens.

Elena und Lukas vereinbaren, zusammen mit ihrem jeweiligen Elternteil eine Stunden später im Café um die Ecke zu sein. Es stellt sich heraus, dass sie wirklich Zwillinge sind. Bei ihrer Geburt starb ihre Mutter und sie wurden unerklärlicherweise getrennt. Vom Vater fehlt jede Spur. Die Personen, die sie bis jetzt als Vater und Mutter bezeichneten, sind Verwandte  der leiblichen Eltern. Elenas bisheriger Vater hört auf zu trinken, zu rauchen und zieht gemeinsam mit Elena zu Lukas und dessen Mutter. Elena muss nun nicht mehr Zeitungen austragen, da Lukas´ Mutter genug Geld hat. Elena und Lukas verstehen sich blendend und haben es mit ihrer Zusammenfindung sogar in das Stadtblatt geschafft. Doch die Reise in die Wüste ist ein kleines Geheimnis der beiden.