„Der Lieblingsbruder“

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Benjamin und Severin, 14 Jahre, Wien

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Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, seitdem Friedrich begonnen hatte, in seinem Buch zu lesen, als es auch schon an seine Zimmertür klopfte. Genervt rief er: „Herein!“ Die Tür wurde geöffnet und seine beiden kleinen Brüder, Johannes und Leonard, betraten den Raum.

„Welchen Unsinn habt ihr euch nun schon wieder in den Kopf gesetzt?“, wollte Friedrich wissen. Johannes, der um ein Jahr älter war als Leonard, antwortete: „Keinen Unsinn. Wir stören doch nicht etwa?“ Friedrich verdrehte die Augen. „Jedenfalls“, begann Leonard, „Interessiert es uns, wer denn dein Lieblingsbruder ist. Wen von uns liebst du mehr?“ Der Teenager seufzte. Das war mal wieder typisch für seine Brüder. Aber so nervig sie auch waren, er liebte sie beide und konnte ihnen nie lange böse sein. Doch wie sollte er auf ihre absurde Frage antworten? Jeder von ihnen hatte seine guten und schlechten Eigenschaften. Es war doch unmöglich zwei Menschen miteinander zu vergleichen. Nein, er wollte ihre Frage nicht einfach so beantworten. So leicht würde er es ihnen nicht machen. Wie jedoch konnte er den zwei Kindern klarmachen, was er meinte? Langsam reifte in seinem Kopf eine Idee heran. „Wisst ihr, ich habe da eine kleine Aufgabe für euch. Überlegt euch einen sehr bösartigen Streich und spielt ihn Mutter oder Vater oder ihr vollbringt eine üble Tat, die jemandem der beiden schadet -je nach dem, wen ihr weniger mögt. Für wen auch immer ihr euch entscheidet, es muss ihn oder sie besonders hart treffen. Wie, das ist euch überlassen. Am besten verletzt ihre Gefühle oder bringt sie an den Rand der Verzweiflung. Derjenige von euch, dessen Tat mir besser gefällt und grausamer ist, der ist mein Lieblingsbruder. Wäre das denn nicht ein großer Spaß?“ Verdutzt wechselten die Knaben einen Blick, doch dann nickten sie und lächelten. „Mein Streich, der wird dich förmlich umhauen!“, meinte Johannes. „Nein, meiner wird viel besser!“, erwiderte der jüngste Bruder. „Wir werden sehen“, sagte Friedrich.

Also verließen die Unruhestifter das Zimmer und machten sich auf, um ihren Streich oder ihre Schandtat zu planen. Es war keine große Freude für ihn gewesen, sich diesen Wettbewerb auszudenken, doch Friedrich glaubte, keine Wahl zu haben. Alles, was er jetzt noch machen konnte, war zu warten und zu hoffen, dass sein Plan aufgehen würde. Er kannte seine Geschwister sehr gut, und er wusste, dass sie es nicht übers Herz bringen würden, einem ihrer Elternteile so zu schaden, waren die beiden Erwachsenen doch so sehr um das Wohl ihrer Kinder bemüht. Doch was, wenn die Sache schiefging oder aus dem Ruder geriet? Was, wenn Johannes und Leonard so darauf versessen waren, beliebt bei ihrem Bruder zu sein? Friedrich wollte den Zusammenhalt seiner Familie um keinen Preis aufs Spiel setzen. Er liebte sie alle, so, wie sie waren. Dem Jugendlichen wurde bang und er fürchtete, eine Fehler von riesigen Ausmaßen begangen zu haben. Nach einigem Nachdenken jedoch kam er zu dem Schluss, dass es nichts nutzte, sich auszumalen, was alles Schreckliches passieren könnte. Wenn er jemanden kannte, der unzertrennlich war, dann waren das seine Brüder. Friedrich hatte keine Ahnung, wie sie auf die dumme Idee mit dem Lieblingsbruder gekommen waren, aber wahrscheinlich war ihnen langweilig gewesen. Oder, dachte er, sie hatten beide Angst gehabt, ausgeschlossen oder benachteiligt zu werden. Bis zu einem gewissen Grad konnte er ihre Gefühle ja verstehen, aber dennoch…Das jähe Öffnen seiner Tür riss den Vierzehnjährigen aus seinen Gedanken. Und da standen sie, Johannes und Leonard, beide bekümmert dreinschauend.

Friedrichs Schätzung nach lag ihr Gespräch nicht einmal eine Stunde zurück. Die erwünschte Wirkung war offenbar äußerst schnell eingetreten. „Wir müssen reden“, meinte Johannes. Leonard fragte, den Tränen nahe: „Wieso hast du uns das aufgetragen?“ Ihr älterer Bruder seufzte. „Na ja, ihr wolltet unbedingt wissen, wen von euch ich mehr mag. Also musste ich euch irgendwie zeigen, dass das so nicht geht. Es ist mir, genau wie euch wohl auch, nicht möglich zu sagen „Dieser meiner Brüder ist besser, der andere ist schlecht“. Um euch dies zu erklären habe ich mir diesen Wettbewerb einfallen lassen. Ihr konntet euch nicht für einen Elternteil entscheiden, geschweige denn, ihm etwas Übles anzutun. Selbstverständlich gibt es manchmal Leute, deren Ansichten wir überhaupt nicht teilen und die wir gar nicht mögen. Aber das hier ist etwas anderes. Unsere Eltern wollen beide, dass es euch gut geht, sie lieben euch gleichermaßen, und sie kümmern sich gleich viel um euch. Natürlich, manchmal kann es sein, dass jemand weniger für einen macht als ein anderer es würde. In diesem Fall ist es allerdings nicht so, und genauso wie euch unsere Mutter und unser Vater und ihr sie liebt, so liebe auch ich euch gleich und keiner ist mein Lieblingsbruder oder so etwas. Ich hoffe, ihr habt das verstanden.“ Die zwei jüngeren Brüder nickten. Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihren Gesichtern aus. „Kommt jetzt, wollen wir nicht zusammen etwas Schönes unternehmen? Zusammen mit unseren Eltern, alle gemeinsam?“ Wieder nickten Johannes und auch Leonard, und lachend begaben sich die drei aus dem Zimmer.