„Amerika“

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Sarah, 13, aus Wien

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Ich wache auf. Ich fühle mich müde und träge, aber trotzdem verlasse ich mein Bett. Während des Anziehens werfe ich einen Blick auf meinen Kalender und stutze. Drei Tage. Vor drei Tagen ist mein kleiner Bruder verschwunden. Meine Mutter glaubt, er sei entführt worden, doch das denke ich nicht. Wochen vor seinem Verschwinden hat er schon von einem Abenteuer geträumt. Das ganz große Abenteuer, allein und mit viel Proviant, versteht sich. Das mit dem Proviant stimmt, denn auf jeden Fall fehlen seit seinem Verschwinden ein paar Packungen Zwieback, einige Äpfel, Wasserflaschen und Süßigkeiten. Das ist meinen Eltern nicht aufgefallen, und als ich es ihnen erzählt habe, haben sie nur den Kopf geschüttelt. „Deine Theorie ist ja ganz nett, aber sehr unrealistisch, Kleines“, war alles, was mein Vater dazu sagte. Nicht einmal er dachte näher über meine Vermutung nach. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan, wegen all der Fragen, die in meinem Kopf herumschwirren. „Wo ist mein Bruder? Wo will er hin? Oder ist er doch entführt worden?“ Die Zeit wird knapp. Ich denke, dass er sich ein ganz großes Ziel ausgesucht hat und ich könnte ihn verpassen. Ich würde ihm zutrauen, dass er mittlerweile sogar in einem anderen Land sein könnte. Ich versuche meine Gedanken zurückzudrängen, ich habe schon alle Möglichkeiten abgewogen und durchforscht. Zur Ablenkung beschäftige ich mich deshalb mit alltäglichen Abläufen: Zuerst ins Badezimmer und dann heißt es Frühstück! Zum Frühstück stelle ich Müsli, Milch und eine Schüssel auf den Tisch. Während ich kaue, fällt mein Blick auf die Müsliverpackung, wo meist Gewinnspiele und andere Rätsel draufgedruckt sind und die mein Bruder immer beim Frühstück liest. Auch dieses Mal erkenne ich eine Werbung darauf: eine Reise ans Meer. Und plötzlich klingelt es irgendwo, tief in meinem Kopf. Das Meer! Dorthin wollte Jakob, mein kleiner Bruder, schon immer hin! Es ist nicht so weit weg, eine Tagesreise mit dem Zug, aber wir haben es trotzdem nie geschafft, dorthin zu fahren. Kaum habe ich diesen Gedanken beendet, bin ich schon unterwegs zu meinem Zimmer. Ich leere mein Sparschwein, um zum nötigen Geld für das Zugticket zu kommen, packe irgendein Buch zum Zeitvertreib, meine Jacke und mein Lunchpacket, das eigentlich für die Schule gedacht war, ein. Tja, Schule wird heute wohl ausfallen! Ich laufe, laufe so schnell ich kann. Ich weiß, dass die Fernzüge immer irgendwann in der Früh abfahren, doch die genaue Uhrzeit kenne ich nicht. Ich habe Glück, der Zug Richtung Meer rollt gerade in den Bahnhof ein, als ich endlich mein Ticket bekommen habe. Sobald ich im Zug bin, suche ich einen Sitzplatz. Es wird eine lange Reise, daran ist nicht nur die Entfernung schuld. Die ersten Stunden versuche ich ein wenig Schlaf zu bekommen, was mir nach einer Weile auch gelingt. Mit dem gleichmäßigen Ruckeln des Zuges gleite ich in einen leichten, unruhigen Schlaf. Sobald ich wieder aufgewacht bin, drohen die Gedanken erneut über mich hereinzustürzen. Hilfe suchend greife ich zu dem Buch, das ich in meiner Eile eingepackt habe. Als ich auf den Titel schaue, erstarre ich. Es ist das Lieblingsbuch meines Bruders. Das, aus dem ich ihm immer vorgelesen habe, wenn er mich darum gebeten hat. Die Geschichte über den tapferen Jungen, der einen bösen Entführer über die ganze Welt hinweg verfolgt und schließlich in Amerika einholt und das entführte Mädchen aus den Klauen des Schurken befreit. Heldenhaft reist er mit dem Mädchen zurück in seine Heimat und heiratet sie dort, wo alles natürlich glitzernd und voller Freude ist. Ein tolles Happyend, das von Anfang an klar war. Ich wünschte nur, dass ich diese Gewissheit auch jetzt, im wahren Leben spüren und mir sicher sein könnte, dass alles wieder gut wird. Doch ich muss mir eingestehen, dass ich mir nicht sicher bin, ob es in dieser Geschichte ein gutes Ende geben wird. Die Zeit vergeht quälend langsam, und doch erreicht der Zug die Endstation schneller als ich gedacht habe. Ich stürme zum Ausgang und bin die Erste, die den Bahnsteig betritt. Ich war noch nie am Meer und doch kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich mich in der Nähe befinde. Das sagt mir der kühle, salzig frische Lufthauch, der mein Haar nach hinten wehen und mich für kurze Zeit all meine Sorgen um meinen geliebten Ausreißer vergessen lässt. „Wie hat er sich wohl gefühlt, als er ausgestiegen ist? Frei und sorglos? Oder doch ängstlich und unsicher?“, diese Fragen gehen mir durch den Kopf, doch ich schiebe sie schnell weg und denke bitter: „Diese Fragen kannst du ihm stellen, wenn du ihn gefunden hast. Also los, beeil dich!“ Ich frage noch am Bahnhof, wie man am schnellsten zum Strand kommt und eine junge freundliche Frau zeigt mir einen kleinen Schleichweg, der mich direkt zur Küste führt. Ich spüre meine Füße im Sand versinken, höre die Wellen rauschen, rieche das Salz in der Luft und spüre die Nachmittagssonne auf meiner Haut. Schließlich öffne ich meine Augen, sehe die Menschen und das Meer. Und dann, plötzlich sehe ich ein selbstgemachtes Floß mit einer einmaligen Flagge, eine Flagge die ich meine ganze Kindheit schon kenne. Ich beginne zu rennen, ich stolpere und rappele mich wieder auf, ich schreie seinen Namen, so oft bis er mich hört. Er wollte sich gerade auf sein Floß setzen und losfahren, doch er hält inne sobald er mich sieht. Verwundert schaut er mich an, als ich ihn an mich drücke und fragt: „Willst du mit kommen?“ Ich gehe nicht auf seine Frage ein und schaue ihn nur an. Nach einer Weile höre ich mich selbst sagen: „Wo wolltest du hin?“ Und alle Fragen, die mir in den vergangen Tagen den Schlaf geraubt haben, erhalten nun eine Antwort. Sie besteht aus einem einzigen Wort und bevor Jakob es ausspricht weiß ich es: „Amerika.“