„Alles Liebe oder was?“

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Arife, 16 Jahre, aus Breidenbach

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Hastig blickte er auf seine Armbanduhr, die fünfzehn Minuten vor halb tickte. Ihm blieben nur noch acht Sekunden – nein- ihr blieben nur noch acht Sekunden.

Acht: Er zog sie eilig hinter sich her, draußen war es schon dunkel geworden und dennoch schien ihr Gesicht zu strahlen. Ihr hatte das Theaterstück „Die Frau vom Meer“ von Henrik Ibsen   scheinbar gefallen. Er konnte ihre Meinung dazu nicht teilen, da er es schrecklich uninteressant fand. Sie blickte unsicher zu ihm, sprach jedoch kein einziges Wort.

Sieben: Langsam wurde es ihr zu unangenehm und sie fragte schnaufend vor Anstrengung, wieso er es so eilig hätte. Ohne ihr eine Antwort zu geben, zog er kräftig an ihr und bog in eine Seitenstraße ab. Nervös und schwitzend drehte er sich in alle Richtungen und lief mit ihr an der Hand weiter.

Sechs: Angst bereitete sich im Körper der Frau aus und auch sie folgte seinen Augen. Gemeinsam liefen sie zur nächsten Straße.

Fünf:  Nun fing er an zu murmeln, keuchte und sah schrecklich bleich aus. Ihn drängte die Zeit. Die Zeit, die er zu hassen begann, die er verabscheute und gleichzeitig fürchtete.

Vier: Nun hatte die Frau genug. Sie riss sich von ihm los, ging auf Abstand zu ihm und schrie ihn an. Sie hatte furchtbare Angst um ihn und verengte die braunen Augen.

Drei: Diesmal schrie ihr Mann sie an, dass sie gefälligst keine Fragen zu stellen und einfach mit ihm mit zu laufen hätte. Sie ignorierte dies. Geändert hätte es so wieso nichts, ganz gleich, wie oft er es auch versuchen mochte.

Zwei:  Ihr seidig blaues Kleid und ihre rehbraunen Augen schienen im Mondlicht beinahe magisch zu glühen. Würde diese Schönheit doch auch nur Zeit überbrücken. Doch das tat sie leider nicht. Nicht mehr.

Eins: Ihre Laute, ihr Zurufen wurden von dem lauten Hupen eines PKWs übertönt. Ihre Augen weiteten sich erschrocken ins Unermessliche. Er rannte auf sie zu, um sie vor dem Wagen zur Seite zu schubsen, doch das Schicksal machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Die Welt wollte nicht, dass man sie rettete. Der PKW fuhr mit voller Wucht in die Wand des gegenüberliegenden Gebäudes und vergrub die Frau gleich mit. Es verging nicht in Zeitlupe, wie man es in solchen Momenten gedacht hätte, es ging so schnell, dass sie nicht mal einen letzten gellen Schrei herausbringen konnte. Sie war fort. Der Versuch sie zu retten scheiterte. Erneut.  Er hatte sie so oft sterben sehen, dass er nicht mehr weinen konnte. Sie so oft verloren, dass er nicht mehr schreien konnte, da er so oft gebrüllt hatte, dass ihm die Kraft einfach dafür fehlte. Mit leerem Blick starrte er in die eingestürzte Wand, dann zu seiner Armbanduhr. Egal wie oft und auf welcher Art und Weise er versuchte sie zu retten, ihr Tod stand fest. Rettete er sie von einem Sturz, starb sie an einem Feuer zu Hause. Rettete er sie von einem Auto, dann wurde sie gleich danach von der Bahn erfasst. Rettete er sie vor dem Ersticken, starb sie durch einen versehentlichen Schuss eines Polizisten. Rettete er sie vorm Ertrinken, wurde sie gleich danach von einem Einbrecher umgebracht. Einfach so. Ganz gleich, ob er sie rettete, das Schicksal suchte sich sofort einen anderen erbärmlichen Weg, sie für immer von dieser Welt los zu werden.  Sie starb immer zur gleichen Zeit. Dachte er für eine kurze Zeit, dass er das Schicksal umändern konnte und es geschafft hatte, sie vor einem anderen Unheil zu bewahren, wurden seine Hoffnungen immer zu Nichte gemacht. Er wusste nicht mal mehr, wie oft sie vor seinen Augen krepiert war. Er stellte die Zeit seiner Uhr wieder zurück. Zurück zum Beginn dieses Tages. Der Tag ihres unvermeidlichen Todes. Alles um ihn herum verschwamm, die Sirenen, die aufgeregten Menschen, die den „Unfall“ miterlebt haben und auch das Mondlicht. Er versank in Dunkelheit und er glaubte, er würde gleich in Ohnmacht fallen. Wachte aber einen Augenblick später in einem warmen Bett wieder auf. Sie lag vor ihm, lächelte ihn müde und doch voller Leben an. Er hatte sich nicht getraut ihr zu erzählen, dass sie heute sterben würde, wie hätte sie auch reagieren sollen? Hätte sie ihm geglaubt?  Welcher Mensch hätte das getan? Behutsam legte er eine Hand an ihre Wange und weinte. Sein Gesicht verkrampfte sich und er konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie würde sterben, auf welche Art sie heute sterben würde, wollte er nicht wissen. Doch er konnte nichts für sie tun. Warum hatte man ihm aber dann diese Kräfte verliehen? Sie immer und immer wieder verenden zu sehen, bis er daran zu Grunde ging? Seine Frau runzelte die Stirn und schluckte. Ihr Herz verkrampfte sich bei seinem Anblick. Sie hatte ihn noch nie so verbittert gesehen. Er sah so mutlos, verzweifelt und hilflos aus. Er war am geistigen Tiefpunkt angelankt. Er weinte immer mehr und mehr, heftig bebte sein starker Körper. Seine Frau rückte zu ihm und schloss ihn in eine Umarmung. Sie war so schön warm. Kaum zu glauben, dass ihre Wärme bald für ewig verblassen sollte. Er wünschte, dass sie beide den ganzen Tag hier verbringen würden, sicher versteckt, so, dass nichts ihr etwas anhaben konnte. Doch er wusste schon, was danach passieren würde.

Sie strich ihm beruhigend über den Rücken, bis sie in sein Ohr hauchte: „Ich bin bei dir. Das werde ich immer sein, egal was passieren wird. Vergiss das nicht.“ Er hörte auf zu schluchzen und kniff die roten Augen zusammen. Sie wischte ihm die Tränen vom bleichen Gesicht, das durch diese schrecklichen Erlebnisse um Jahre älter wirkte. Das war neu. Das gehörte nicht zum Tagesablauf. Wusste sie also doch, dass dies ihr letzter Tag auf Erden war . . . aber wie?

„Du musst loslassen. Ändern kannst du nichts. Nimm es so hin, vergiss aber nie, dass ich bei dir bin“.  Kurz herrschte Stille. Sein gebrochener Blick wich und wurde zu einem gefassten.

Er löste sich von ihr und blickte in die rehbraunen Augen. „Ich werde dich niemals aufgeben!“  Sie schloss behutsam die Augen und zwang sich zu einem Lächeln.

„Das solltest du aber. Manchmal kann man das Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen.“